http://www.units.it/etica/2005_2/PALONEN.htm
Max Weber als
Begriffspolitiker
Department of Social Science and
Philosophy
Abstract Max Weber’s well-known distinction between science
and politics should not prevent us from recognising that his view of
scholarly activity has resemblance to politics in several respects. Both
refer to forms of contingent and controversial striving for power shares and
their redistribution, and in so far is the scholarly activity part of
politics. This does not hold only for the struggles for academic power shares
but also for the contest between theories and approaches among scholars.
Weber’s own use of concepts for contesting or legitimising standpoints or
perspectives is worth discussing. Weber uses different rhetorical strategies.
Occasionally he refers to a seemingly shared sense of a concept but subverts
the apparent consensus and advocates an entirely different view. For example
when Weber defends ‘objectivity’ this does not refer to the object-dependency
of research but to the fair competition between different perspectives of
interpreting the object. He also uses rhetoric of provocative laughter, for
example against the politically dilettantish ”ink bottle” literati. Demagogy is a concept that Weber uses in
depreciating, neutral or appreciating tone depending on the context. Also in
his academic politics Weber prefers the politician to the official. |
Es ist ein
Gemeinplatz, dass Max Weber zwischen Wissenschaft und Politik streng unterscheidet.
Die Grundidee seiner Wertfreiheitsthese ist, dass unter Berufung auf
Wissenschaft keine Politik betrieben werden, von ihr „abgeleitet” oder auch nur
in deren Namen legitimiert werden kann. „Eine empirische Wissenschaft vermag
niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter
Umständen was er will”, heißt es im Objektivitätsaufsatz (Weber 1904, 151).
Dies bedeutet vor allem die Autonomie der Politiker hinsichtlich einer
Bevormundung durch die Wissenschaft, deren Autonomie Weber wiederum gegen
Eingriffe der Regierung und anderer Mächte verteidigt.
1. Politik und
Wissenschaft treiben
Das Verhältnis
von Wissenschaft und Politik bei Weber kann man jedoch auch von der
performativen Seite der Tätigkeiten aus analysieren. Studiert man die Art der
Handlungen der Akteure, dann werden weder Wissenschaft noch Politik als
Lebenssphären verstanden. Vielmehr fragt man: was tut dann jemand, der Politik
bzw. Wissenschaft treibt?Weber hat die performative Seite der Wissenschaftler
nie eigenständig behandelt, während er dies hinsichtlich der Politiker explizit
tat. Meiner These nach bildet der Webersche Idealtypus des Politikers auch ein
Modell für die Tätigkeiten des Wissenschaftlers. Auch in der Wissenschaft geht
es – um nur die berühmtesten der
Weberschen Politik-Formeln zu notieren – zumindest bis zu einem gewissen Grade
um das ”Streben nach Machtanteilen und nach Beeinflussung der Machtverteilung”
(Weber 1919, 36), um ”langsames Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und
Augenmaß zugleich” (ebenda, 88), um ”Parteinahme, Kampf, Leidenschaft” (ebenda,
53) oder um ”Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger
Gefolgschaft”(1918a, 232),.Gegen den weit verbreiteten akademischen Anspruch,
unpolitisch zu sein, kann man folgende Einsicht Carl Schmitt zitieren: ”In
Wahrheit ist es … eine typische und besonders intensive Art und Weise, Politik
zu treiben, dass man den Gegner als politisch, sich selbst als unpolitisch
(d.h. hier wissenschaftlich, gerecht, objektiv, unparteiisch usw.) hinstellt”
(Schmitt 1932, 21). Unabhängig davon, dass Schmitts Entpolitisierung für Weber
eine Politisierung ist (s. Palonen 1998, 226-229), lohnt es sich, das Politikum
auch in den Praktiken des Wissenschaftsbetriebes aufzusuchen.Entsprechend kann
man den akademischen Betrieb als ein Spielfeld der Theoriepolitik verstehen (zu
diesem Begriff s. Palonen 2003a, 68-69). Im Streit unter Gelehrten geht es
nicht nur um Stellen, Gehaltsgrade, Forschungsgelder, Mitarbeiter, Lehr- und
Lernfreiheit, Zeit für Forschung, Publikationen, akademische Prestige u.a.
äußere Aspekte des Betriebs, die unter Professoren seit jeher zu
leidenschaftlichen Kämpfen geführt haben. Es geht vielmehr auch um den
akademischen Inhalt, um die Ansätze, Theorien und Begriffe, um ihre Konstruktion
und Revision, Auf- und Abwertung, Legitimation und Delegitimation usw. Ohne
Politik und damit verbundene Rhetorik kommt keine Theorie auf und kann auch
keine bekämpft werden. Das Politikum des akademischen Betriebs ist in der
perspektivistisch-nominalistischen Wissenschaftskonzeption Max Weber schon
eingebaut. Der Streit um die grundlegenden Bewertungen und Annahmen, die immer
einen Bezug zur Politik haben, gehört zum Kern der Kulturwissenschaften selbst.
„Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja
geradezu, daß es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden
Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst
gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allgemeinen
Kulturfragen hineinragt”, heißt es schon im Objektivitätsaufsatz (Weber 1904,
153).Wenn ich Weber als eine Art frühen Vertreter der Begriffsgeschichte
identifiziere (Palonen 2000 und 2004), dann stellt sich die Frage, wie Max
Weber selbst mit Begriffen Politik betreibt? Gelten seine für Politiker
präsentierten Kriterien auch für seine eigene Begriffspolitik? War er als
Begriffspolitiker erfolgreich? Welche rhetorische Strategien und Taktiken (im
Sinne von Skinner 1974, revidiert in 2002) benutzt er für die eigene
Begriffsbildung? Wie sieht man das Politikerparadigma des Wissenschaftlers in
Webers eigenem Begriffsgebrauch?
2. Webers akademischer
Pyrrhussieg
Max Weber war
ein akademischer Mehrkämpfer, der in der heutigen akademischen Welt fast undenkbar
geworden ist. Mag sein, dass dies auch ein Grund dafür war, dass sein Werk
unter den schon zunehmend spezialisierten Zeitgenossen zwar Anerkennung genoss,
aber weder ordentlich rezipiert noch gut verstanden wurde. Insofern fragt man
sich, in wieweit der spätere weltweite akademische Erfolg und die
dementsprechende Kanonisierung zum Klassiker dem Weberschen Streben nach
akademischen Machtanteilen entspricht. Insofern Weber nach dem Zweiten
Weltkrieg zu den meist zitierten Klassikern gehört, dann kann man mit guten
Gründen von einem posthumen Pyrrhussieg Webers in der anglophonen Soziologie
und Politikwissenschaft sowie in ihrer europäischen Rezeption sprechen. In dem
was Soziologen (von Talcott Parsons bis C.Wright Mills) und Politologen (z.B.
David Easton und Robert Dahl) etwa von Politik, Macht und Herrschaft sagen,
sind durchaus Spuren von Weber zu finden, aber derart verwässert, dass man von
einem Vulgär-Weber sprechen muss. In den „Definitionen” dieser Begriffe sieht
man Formeln, die entweder explizit auf Weber bezogen sind oder
Weber-Spezialisten bekannt vorkommen. Trotzdem enthalten die Sprechakte, in
denen die Begriffe verwendet werden, einen Ton, der Weber fremd ist, der ihn
vereinfacht und verflacht. Wenn etwa Politik als „Streben nach der Macht” in
irgendeiner englischer Formulierung auftaucht, vergisst man entweder den
Chancencharakter der Macht oder gibt dafür eine Übersetzung – etwa probability, ability or capacity –,die sowohl die radikale
Kontingenz als auch das Politikum des Weberschen Chancenbegriffs verschwinden
oder harmlos erscheinen lassen. Wenn man die Rezensionen von Politik als Beruf nach der ersten (1919) und der
zweiten, posthumen (1926) Auflage liest, wird klar, dass die Rezensenten kein
Verständnis für die Außerordentlichkeit der kleinen Schrift zeigen. In dieser
Hinsicht besteht ein deutlicher Kontrast zu Carl Schmitts Begriff des Politischen (Artikelversion 1927, Buchversion
1932), der sofort eine breite, hauptsächlich kritische aber teilweise auch
enthusiastische Resonanz erhielt. Man kann darüber streiten, ob schon Politik als Beruf oder erst Der Begriff des Politischen einen
Wendepunkt in der Begriffsgeschichte der Politik bezeichnen (s. Palonen 2002,
19-21). Ich und andere, die auf Weber setzen, nehmen fast immer auch auf Schmitt
Bezug, die heutigen Schmitt-Zitierer – etwa Chantal Mouffe in ihrer jüngsten
Schrift On the Political (2005) –
erwähnen dagegen Weber überhaupt nicht. Offenbar bleibt die Webersche
Orientierung auf die Praxis der Politik aus ihrer Sicht trivial, während die
Freund-Feind-Unterscheidung Schmitts, wie es bei Mouffe (2005, 8) heißt, auf
die „Ontologie” des Politischen verweist. Ein Grund dürfte auch darin liegen,
dass die Schmitt-Rezeptionen nur den textbook-Weber kennen und keinen Bezug auf
die Weberologie der letzten zwanzig Jahre nehmen.Sowohl der vulgäre Weber der
Sozialwissenschaftler als auch der triviale Weber der Schmittianer verweisen
auf die Erfolglosigkeit Webers als akademischer Begriffspolitiker. Seine
Stichworte sind Gemeinplätze geworden, die innovativen Aspekte seiner Begriffe
sind in der breiteren Rezeption aber verloren gegangen. Dies erinnert fast an
Webers Kandidatur für die Weimarer Nationalversammlung im Wahlkreis
Hessen-Nassau, bei der er auf einen hinteren Listenplatz gesetzt wurde. Insofern
ist es notwendig, die impliziteren Dimensionen der Weberschen Begriffspolitik
auch für die heutigen Leser sichtbar zu machen.Denken wir nur an folgende
Kurzformel in Politik als Beruf: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht” (Weber 1919, 36). Ist dies nicht
eine Allerweltsbehauptung? Vor Weber haben auch andere Ähnliches gesagt, der
Rechtsphilosoph Fritz Berolzheimer etwa schrieb: „Der Wesenszug aller Politik
ist Streben nach Macht durch Gestaltung des Rechts.” (Berolzheimer 1907/08,
243). Sagt Weber, obgleich er auf das „Wesen” verzichtet, etwas Anderes?Wieder geht es darum, dass
Weber – und nicht andere – mit „Macht“
gerade auf bestimmte Art von Chancen verweist. ”Macht bedeutet jede Chance, innerhalb
einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht”, lautet seine berühmte
Formel (Weber 1922, 28). Wenn statt Macht Machtchancen angesprochen werden,
wird deutlicher, dass „Macht” bei Weber auf keine Totalität, sondern auf
Handlungen bezogen ist, und „Chancen” – wie Weber in seiner längeren
Politikformel sagt – aus bestimmten einzelnen Machtanteilen und ihrer
„Verteilung” bestehen. Mit anderen Worten: „Macht” ist kein Besitz und auch
keine bloße asymmetrische Relation von Über- und Unterordnung, sondern alle
politischen Akteure haben irgendwelche Machtanteile, und es kommt auf die
situationelle Bedeutung dieser verschiedenen Machtanteile an. Dies fehlt beim textbook-Weber gänzlich.Nun kann man das oben zitierte
Schmitt-Diktum mit Weber präzisieren. Wenn eine Person sagt, dass sie nicht
nach Macht strebe, kann dies aus Webers Sicht zweierlei bedeuten: Entweder hat
sich die Person eben von der Politik verabschiedet, d.h. sie ist vom
Gelegenheitspolitiker zum freiwilligen Untertanen übergegangen, oder sie
versucht den Sprechakt „Ich strebe nicht nach Macht” gerade in einen
Machtanteil der eigenen Politik zu verwandeln, d.h. die bekannte Rolle des
Antipolitikerpolitikers zu spielen.Mit den neueren Übersetzungen haben auch die
anglo- und frankophonen Weberologen jetzt bessere rhetorische Mittel als Weber
selbst, die Weberschen Begriffe – und nicht nur seine Stichworte – in der
akademischen Welt detailliert und historisch genug auszulegen. Vielleicht kann
man hier von einem „langsamen Bohren harter Bretter” sprechen.
3. Die Umformulierung der
Begriffe
Um die
Webersche Begriffspolitik zu verstehen, sollte man auf die Rezeptionsgeschichte
lieber verzichten und Webers Begriffsbestimmungen als politische Sprechakte oder
rhetorische Schachzüge in ihrem zeitgenössischen Kontext verstehen. Dieser
Kontext kann nie bloß akademisch sein, vielmehr spielt dabei Webers Haltung zum
deutschen Kaiserreich und zur jeweils aktuellen politischen Situation durchaus
mit.Das Beispiel des Machtstrebens verweist schon auf eine bestimmte
rhetorische Strategie Webers. Mit Absicht erweckt er Eindruck einer breiten
Zustimmung, und zwar zu einem Standpunkt, der keineswegs selbstverständlich
ist, und bringt dadurch ein eigenes Profil ins Detail der Formulierung. In
Politik als Beruf fragt Weber anfangs: „Was verstehen wir unter Politik?”
(Weber 1919, 35). Wer bildet in diesem Satz das ‘Wir’? Weber verweist dann auf
einige alltägliche Gebrauchsweisen des Begriffs: „Der Begriff ist außerordentlich
weit und umfasst jede Art selbständig leitender Tätigkeit. Man spricht von der
Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpolitik der Reichsbank, von der
Politik einer Gewerkschaft in einem Streik…” (Weber 1919, 35). Trotzdem liegt
seine Pointe eben in der eigenständigen Umprägung des Begriffs. Mit anderen
Worten, das „Wir” bei Weber ist ein Pluralis majestatis in einem spezifischen
Sinn (s. auch Palonen 2002, 25-26). Die Berufung auf das „Wir“ dient Weber
dazu, seine Konzeption durch eine Anknüpfung an den Alltagsgebrauch stärker zu
legitimieren (s. Skinner 1974 über den innovativen Ideologen). Bei einem
Vergleich mit der zeitgenössischen Diskussion des Politikbegriffs wird klar,
dass gerade Weber sich mit dem Begriff viel ausführlicher als andere seiner Zeitgenossen
befasst und mit den unterschiedlichen Nuancen der Formulierung gerade ein
eigenständiges Profil schafft. Man fragt sich jedoch, ob er die Singularität
sowohl seiner Fragestellung als auch seiner Antworten selbst unterschätzte?
Oder geht es vielmehr darum, dass Weber in seinem eigenen Werk Eitelkeit, die
„Todessünde” des Politikers und die „Berufskrankheit” des Akademikers (Weber
1919, 74), streng vermeiden wollte?Noch deutlicher kann man diese Fragen
hinsichtlich der „Vorbemerkung” zu seinen Soziologischen Grundbegriffen
stellen. Weber schreibt nämlich: « Vorbemerkung. Die Methode dieser
einleitenden, nicht gut zu entbehrenden, aber unvermeidlich abstrakt und
wirklichkeitsfremd wirkenden Begriffsdefinitionen beansprucht in keiner Art:
neu zu sein. Im Gegenteil wünscht sie nur, in – wie gehofft wird –
zweckmäßigerer und etwas korrekterer (eben deshalb freilich vielleicht
pedantisch wirkender) Ausdrucksweise zu formulieren, was jede empirische
Soziologie tatsächlich meint, wenn sie von den gleichen Dingen spricht. Dies
auch da, wo scheinbar ungewohnte oder neue Ausdrücke verwendet werden.
Gegenüber dem Aufsatz S. 427 ff. dieses Bandes ist die Terminologie tunlichst
vereinfacht und daher auch mehrfach verändert, um möglichst leicht verständlich
zu sein. Das Bedürfnis nach unbedingter Popularisierung freilich wäre mit dem
Bedürfnis nach größtmöglicher Begriffsschärfe nicht immer vereinbar und muß
diesem gegebenenfalls weichen. (Weber 1922, 1)Wenn man die „Grundbegriffe” dann
liest, erscheint die zitierte Formel als ein extremes Understatement, das
rhetorisch auf eine höhere Akzeptanz der Weberschen Begriffsumbildungen zielt.
Gewissermaßen gegen die lexikalischen Traditionen der Reihe Grundrisse der Sozialökonomik, unternimmt
Weber bewusste Umprägungen der Begriffe. Er analysiert „die gesellschaftlichen
Ordnungen und Mächte”, wie es im Untertitel heißt, nicht als „Fakten”, nicht
als „Gesetzmäßigkeiten” oder auch nicht als normative Forderungen, sondern
strikt nominalistisch, als Komplexe von „Chancen”. Heute würde man diesen
Unterschied vielleicht als Anspruch auf einen Paradigmenwechsel bezeichnen.Die Chancen, das heißt: das
Mögliche, das Kontingente, das Erwartbare, das Realisierbare, die
Gelegenheiten, das Bespielbare – wie immer man die unterschiedlichen Facetten
dieses mehrschichtigen Schlüsselbegriffs bei Weber auslegt (s. Palonen 1998) –
sind nach Weber für die handelnden Akteure etwas Reales. Dass er etwa den Staat
als einen bestimmten Komplex von Herrschaftschancen bestimmt, enthält schon
eine Absage an die personifizierende Fiktion – „General Doktor vom Staat”, wie
es bei Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen heißt (Mann 1918). Der Staat bei Weber verweist auf die
Handlungen der Personen, die im seinem Namen bzw. gegen die im Namen des Staates
tätigen Personen agieren: „Ein »Staat« hört z.B. soziologisch zu »existieren«
dann auf, sobald die Chance, daß bestimmte Arten von sinnhaft orientiertem
sozialem Handeln ablaufen, geschwunden ist” (Weber 1922, 13).Wenn Weber etwa Herrschaft – „Herrschaft soll heißen die Chance, für
einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden”
(ebenda, 28) – als Chance bestimmt, dann ist dies eben keine bloße
Umformulierung der Alltagssprache. Vielmehr betreibt Weber damit eine
absichtliche Auflösung der alltäglichen Kollektivbegriffe (s. Weber 1904,
210-212). „Herrschaft” ist für Weber nie ein faktischer Tatbestand, sondern
verweist auf das Mögliche, dessen „Realisierungsgrad” von den
Handlungsmöglichkeiten und der Wahl zwischen diesen unter den zum Gehorsam
Bestimmten abhängig ist. Chancen zur Verweigerung des Gehorsams, die
unterschiedliche Arten und Grade von abschätzbaren Risiken enthalten, gibt es
jederzeit. Die Frage ist vielmehr: welche Arten von Chancen vorliegen, mit
welchen erwartbaren und denkbaren Folgen in ihrem Zusammenhang zu rechnen ist.
Es steht den zum Gehorsam Bestimmten frei, die Chancen und die damit immer
verbundenen Nebenfolgen – d.h. diejenigen Chancen, die im Augenblick des
Handelns nicht thematisiert wurden – des Gehorsams bzw. der Verweigerung
desselben selbständig abzuschätzen und zwischen ihnen zu wählen. Webers Umdeutung der aus „sozialem
Handeln” und „sozialen Beziehungen” entstehenden „Ordnungen und Mächte” aus der
Sicht der „Chancen” bedeutet die Anerkennung der Omnipräsenz der Kontingenz.
Damit ist natürlich nicht eine Welt ohne Zwänge, Bedrängnisse u.a. gemeint,
sondern eben eine, in denen diese als absichtliche Resultate bzw. als
Nebenfolgen kontingenter Handlungen entstehen und wieder aufgelöst werden können.
Für eine derartige Welt brauch man nicht nur eine andere Politikwissenschaft
als die der Vulgär-Weberianer, sondern auch die Einsicht in das Politikum der
Wissenschaft im Allgemeinen. Der Personentypus, der den Chancencharakter der
menschlichen Beziehungen und die aus ihnen entstehenden „Ordnungen und Mächte”
am ehesten versteht, ist es eben der Politiker. Im letzten Abschnitt von Politik als Beruf wird dieser
Art von ‚Möglichkeitsmensch’ als einer beschrieben, der eine Kombination von
entgegengesetzten Anforderungen beherrschen kann: „Es ist ja durchaus richtig,
und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht
erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen
worden wäre. Aber der, der das tun kann, muß ein Führer und nicht nur das,
sondern auch – in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein” (Weber 1919,
88; auch Weber 1917a, 514). In einem ähnlichen Sinn sagt Weber schon 1906 in
einer Polemik gegen Eduard Meyers Kritik an Spekulationen in der Geschichtswissenschaft,
dass der Historiker die Geschichte wie der handelnde Mensch – d.h. wie ein
Politiker – behandeln sollte, d.h. er sollte mit offenen Möglichkeiten
operieren (s. Weber 1906, 267).
4. Die Umprägung der
‘Objektivität’
Neben dem Chancencharakter
der Begriffe zeigt sich in der kompromisslosen Anerkennung der Perspektivität
jeder Erkenntnis die zweite Leitidee der Weberschen Wissenschaftstheorie: „Es
gibt keine schlechthin »objektive« wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens
oder … der »sozialen Erscheinungen« unabhängig von speziellen und »einseitigen«
Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt
oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend
gegliedert werden.” (Weber 1904, 170). Diese Sicht verweist durch Nietzsche
historisch auf die klassische Einsicht der antiken Rhetoriker und Sophisten,
dass nämlich Phänomene nicht von den Perspektiven der Interpretation loszulösen
sind, dass die sprachliche Formulierung der Perspektive vielmehr zum
Verständnis des Phänomens gehört. Weber spricht immer von der Pluralität und
Konkurrenz der Perspektiven, und zwar nicht im Sinne eines Residuums, sondern
eben als Vorrausetzung der Erkenntnis überhaupt: « Alle Erkenntnis der
Kulturwirklichkeit ist, wie sich daraus ergibt, stets eine Erkenntnis unter
spezifisch besondert en Gesichtspunkten. Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare
Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne,
und daß er für diese Unterscheidung die erforderlichen »Gesichtspunkte« habe,
so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit –
bewußt oder unbewußt – auf universelle »Kulturwerte« zu beziehen und danach die
Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder
die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem »Stoff selbst entnommen«
werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der
nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er
unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit
einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es
ihm allein ankommt (ebenda, 180).»Gerade hier liegt auch der Grund dafür, dass die
‘Objektivität’ bei Weber gerade und ‘bloß’ in der möglichst scharfen Konkurrenz
der Perspektiven besteht. Nur deswegen ist es möglich, naive alltägliche
Ansichten durch Konfrontation mit anderen zu revidieren.Ein starker
begriffspolitischer Schachzug Webers besteht also darin, etwas – in
Anführungszeichen – als Objektivität zu bezeichnen, was von der gesamten
akademischen Tradition explizit abweicht. Nicht nur die Zeitgenossen, sondern
das gesamte Pathos der Wissenschaftsapologeten oder besser: -theologen aller
Zeiten pflegten die Objektivität ja als den größten Vorzug der Wissenschaft zu
predigen. Webers Politik der Umdeutung des Begriffs – anstatt Objektivität
durch einen anderen Begriff zu ersetzen oder ihn zu entwerten – ist eine Folge
seines Nominalismus und Perspektivismus. Das Objektive kann nicht das
Objektgemäße sein, weil die Objekte „an sich” nichts „sind”, sondern erst im
Zusammenhang der sie deutenden Perspektiven als etwas erscheinen. Mit dem
Festhalten am Titel Objektivität verweist Weber auf ein anderes Problem als die
Objektivisten. Es geht nicht um die Selbstauflösung der Akteure unter dem
Objekt: gegen diese Forderung richtet sich seine Berufung auf die „einseitige
Steigerung” der Perspektiven und der damit verbundenen Begriffsapparatur des
Idealtypus. Es geht Weber vielmehr darum, die Objektivität als regulatives
Prinzip hinsichtlich der Chancen in der Konkurrenz zwischen den Perspektiven zu
präsentieren. Wenn es keine zureichenden Gründe gibt, das Objekt selbst zum
sprechen zu bringen, muss der Streit der Perspektiven so geregelt werden, dass
alle Perspektiven – ob alt oder neu, ob etabliert oder marginal usw. –
möglichst gleiche Chancen haben, sich zu bewähren. Wenn man also das Objekt
nicht erschöpfend kennen kann, muss man sich stattdessen um die Vielseitigkeit
und Erneuerungsfähigkeit der Interpretationen kümmern. Die Konkurrenz der
Perspektiven steht auch hinter zwei Aspekten der Begriffsbildung bei Max Weber,
nämlich hinter der heuristische Rolle der Umstrittenheit der Begriffe (s. Palonen
2000) sowie der Ersetzung der quasi-dinghaften Deutung der Begriffe durch
temporale, verzeitlichte Begriffe (s. Palonen 2003b). Für diese Konkurrenz der Perspektiven gibt es bei Weber auch ein klares politisches Modell,
nämlich der Parlamentarismus englischer Prägung, der sowohl konzeptionell als
auch historisch auf das rhetorische Prinzip des Wechsel von Rede und Widerrede
zurückkehrt (s. z.B. Redlich 1905). Diese „parlamentarische” Theorie des
Wissens stellt Weber explizit gegen das bürokratische Modell des „Sachwissens”,
„Dienstwissens” und „Geheimwissens” (besonders Weber 1917b und 1918a, dazu s.
Palonen 2004).
5. Die Rhetorik der
Provokation
Die Pointe der
Weberschen Berufung auf das Gängige liegt also darin, dass sie der
Eigenständigkeit weite Randzonen eröffnet. Die „zweckmäßige und korrekte
Ausdrucksweise” verweist darauf, dass „Sachen” für Weber von ihrer sprachlichen
Formulierung abhängig sind, dass die Phänomene als solche sprachlich
mitkonstruiert werden. Die Berufung auf das Gängige zielt auf die Überredung
derjenigen, die zwischen Worten und Dingen streng unterscheiden und für die
„bloße Worte” nur die Oberfläche der Dinge sind. Mit anderen Worten, Weber
nutzt die zeitgenössische Wissenschaftsgläubigkeit bzw. den Alltagsrealismus
der Öffentlichkeit geschickt, um eine eigene Profilierung bei seiner
Begriffsbildung zu betreiben.In anderen Kontexten ist seine Profilierung viel
offener, er spielt sogar mit einer klar provozierenden Rhetorik. Die
akademischen Kritiker haben die Webersche Pointe vielfach missverstanden bzw.
seine Distanzierung vom etablierten Wortgebrauch nicht beachtet. In seltenen
Fällen antwortet Weber den Kritikern: Dann veranschaulicht er die Pointe so
deutlich, dass die Kritiker zugleich als Dilettanten denunziert werden. Der
Paradefall hierfür stammt aus seiner Antwort an Felix Rachfahl im Jahre 1910:
„Was der ‘übliche Sinn’ des ‘kapitalistischen Geistes’ ist, kümmert mich nicht,
auch nicht ob das ‘Tiergartenviertel’ oder ‘Agrarier’ oder Leutnants mit
üppigem Geldbeutel die meisten Aystern konsumieren” (Weber 1910, 170). Weber zu
beschuldigen, sich nicht an den gängigen Wortgebrauch zu halten, ist also
gerade deswegen Unsinn, weil er explizit ausgedrückt hat, in welchem
spezifischen Sinn er vom „kapitalistischen Geist” spricht. Um den
Dilettantismus des Kritikers nochmals hervorzuheben, erklärt er, was er mit dem
angesprochenen Begriff meint: „Sondern es kam mir bei jenem… Beispiel auf die
Illustration einer sehr spezifischen innerlichen Beziehung zum Erwerb und
Besitz: des Gefühls der ‘Verantwortung’ gegenüber dem eigenen Vermögen, welches
‘irrationale’ Ausgaben nicht nur ablehnt, sondern wie eine eigentümliche Art
von ‘Versündigung’ ansieht (was mit dem gewöhnlichen Geiz, von dem Rachfahl an
anderer Stelle redet, nichts zu schaffen hat). Es ist ein asketisches Bedenken
gegen den Genuß als solchen.” (ebenda). Eine derartige Erläuterung mag insofern
selbstkritisch sein, als Weber damit zugesteht, dass vielleicht auch andere
seine Pointe übersehen haben. Darüber hinaus betont Weber mit Nachdruck, dass
es dann, wenn jemand wie er von einem Thema spricht, immer notwendig ist, die
Fragestellungen und Formulierungen des Autors sehr genau zu beachten.In seinen
politischen Interventionen ist Weber in seinem Begriffsgebrauch viel freier,
und gerade deswegen sind diese Schriften für Webers Begriffspolitik höchst
anregend. Mein Lieblingsbeispiel für die Rhetorik der offenen Provokation ist
sein Aufsatz Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in dem er die
Gegner im klassischen rhetorischen Sinn als lächerlich erscheinen lässt (s.
Skinner 2001). Hier begrenze ich mich auf die Art, mit der er die
zeitgenössischen akademischen und literarischen Gegner der Demokratisierung und
der Parlamentarisierung in Deutschland provoziert. Sein erstes Beispiel gilt
dem Pluralwahlrecht, mit dem er einleitend wie folgt zu Gericht geht: «Welches
andere Wahlrecht könnte an seine Stelle treten? Bei den Literaten erfreuen sich
allerhand Pluralwahlsysteme großer Beliebtheit. Welche aber? Soll der Familienstand,
etwa durch Zusatzstimmen, privilegiert werden? Die Unterschichten des
Proletariats und die Bauern auf den ärmsten Böden, überhaupt aber alle
Schichten mit der geringsten ökonomischen Voraussicht, heiraten am frühesten
und haben die meisten Kinder. Oder – der Lieblingstraum der Literaten – die
“Bildung”? Unterschiede der “Bildung” sind heute, gegenüber dem
klassenbildenden Element der Besitz- und ökonomischen Funktionsgliederung,
zweifellos der wichtigste eigentlich ständebildende Unterschied» (Weber 1917b,
156-157). Damit deutet Weber schon eine Schwachstelle der im Laufe des 19.
Jahrhunderts eifrig geführten Debatte der politischen „Kapazität” oder
„Kompetenz” an. Jede Gruppierung will die Zusatzstimmen in einer Weise
bestimmen, die dem eigenen Standpunkt nutzt und dem gegnerischen schadet. Weber
zeigt mit einfachen Beispielen die politisch unerwünschten Folgen derartigen
Vorschläge sowie die Unmöglichkeit, sich neutrale Gründe für derartige
Entscheidung auszudenken. Auch das Bildungskriterium, das seine akademischen
Kollegen vor allem bevorzugen, ist, wie Weber weiter ausführt, sowohl beliebig
als auch grenzenlos interpretierbar: « Soll wirklich das Examensdiplom, welchem
schon die Masse aller Ämter ausgeliefert ist, und die dadurch patentierte Schicht
mit ihren sozialen Prätensionen noch weiter privilegiert werden? Soll dem
Pfründenhunger der examinierten Amtsanwärter – deren Zahl durch die
Frequenzkonkurrenz der Hochschulen und den sozialen Ehrgeiz der Eltern für ihre
Kinder ungeheuer über den Bedarf gesteigert ist – die Macht über den Staat
zugewendet werden? Und was hat eigentlich der Doktor der Physik oder der
Philosophie oder Philologie mit politischer “Reife” zu tun? Jeder Unternehmer
und jeder Gewerkschaftsführer, der, im freien Kampf um das ökonomische Dasein
stehend, die Struktur des Staates täglich am eigenen Leibe spürt, weiß mehr von
Politik als derjenige, dem der Staat nur die Kasse ist, aus der er kraft
Bildungspatentes eine standesgemäße, sichere, pensionsfähige Einnahme erhält»
(ebenda, 157).Hier zeigen sich nicht nur Webers zentrale politische Anliegen,
nämlich die Bekämpfung der neuen feudalen Tendenzen (auf akademischer oder
kapitalistischer Grundlage) sowie der auf diplomiertem Sachwissen basierte
Beamtenherrschaft. Vor allem richtet sich seine Polemik gegen den politischen
Dilettantismus deutscher Akademiker, die – anders als Unternehmer oder
Gewerkschaftler – mit der Praxis des Kampfs persönlich nicht vertraut sind. Die
Hobbypolitik der Honoratioren bleibt für Weber notwendigerweise dilettantisch,
auch die der Beamten. „Das sind Schmarotzerideale einer Pfründner- und
Rentnerschicht, welche den schweren Alltag der geistig und körperlich
arbeitenden Mitbürger an ihrem Tintenfaßhorizont messen zu wollen sich
erdreistet.” (ebenda). Die erste Bedingung für die „politische Reife” besteht
bei Weber in der Absage an die ständisch-korporativen Sonderinteressen der
Akademiker.Das „Tintenfaß” ist heute etwas Anachronistisches, das wir, die in
den fünfziger und sechziger Jahren in die Schule gingen, noch kennen, das aber
längst durch Kugelschreiber u.a. abgelöst wurde. Es ist eine von Weber
bevorzugte Metonymie für die Enge des politischen Horizonts der deutschen
Akademiker. Die „Tintenfaßromantiker” erkennen den freiwilligen Charakter der
Parteien und Organisationen nicht an (ebenda, 168), die „Tintenfaß-Ideologen”
sprechen von „Gemeinwirtschaft” wenn es um kapitalistische Kartelle geht
(ebenda, 171). Die These, dass „(d)as deutsche Parlament bisher große
politische Talente nicht hervorzubringen vermocht (habe)”, ist nach Weber ein
weiterer Ausdruck dafür, dass sie das Werk der Paulskirchenparlamentarier nicht
verstanden haben und „deutscher Geist” dort besser lebte als „als in den
Tintenfässern dieser Herren” (1918a, 207). Trotzdem soll
das nicht als Diskreditierung des Worts als Medium verstanden werden. Vielmehr
benutzt Weber die Metonymie auch für die Betonung der Rolle der Rhetorik im
politischen Handeln: „Heute ist nun einmal nicht das eigene Dreinschlagen mit
dem Schwert, sondern sind ganz prosaischen Schallwellen und Tintentropfen:
geschriebene und gesprochene Worte, die physischen Träger des leitenden
(politischen und: militärischen!) Handelns. Es kommt nur darauf an, daß Geist
und Kenntnisse, starker Wille und besonnene Erfahrung diese Worte: Befehle oder
werbende Rede, diplomatische Noten oder amtliche Erklärungen im eigenen
Parlament formen.” (ebenda, 237). Diese Provokationen Webers, sich also vom
unpolitischen deutschen Akademiker- und Literatentum zu distanzieren, sind mit
Warnungen im „Wie ich schon damals sagte”-Stil verbunden. Mit der Schärfe des
Ausdrucks, der Betonung der Lächerlichkeiten der Vorschläge und der ins Extreme
getriebenen Karikatur der Ansichten versucht Weber, zumindest einige der
Betroffenen selbst zum Umdenken zu bringen. Die „einseitige Steigerung” ist
nicht nur ein methodisches Prinzip seiner akademischen Schriften, sondern
zugleich ein Instrument seiner Rhetorik der Provokation.
6. Die Neutralisierung
eines Schimpfworts: Demagogie
Die Webersche
Praxis, denselben Begriff gelegentlich mit unterschiedlicher normativer
Konnotation zu verwenden, macht dem Leser oft Kopfzerbrechen. Die jeweils
gemeinte Färbung muss durch den und im jeweiligen Text ausgelegt werden, ohne
sicher sein zu können, dass kein ironischer Ton mitschwingt. In einigen Fällen
mag es auch so sein, dass Weber erst nach einem abwertenden umgangssprachlichen
Gebrauch zu einem neutralisierten bzw. aufwertenden Sinn eines Begriffs
gelangt.Dies ist bei der Demagogie bzw. beim Demagogen der Fall. Ich nutze hier
die Möglichkeit, mit einer Internetsuche den Gebrauch dieser Ausdrücke
systematisch durchzusehen. In der sog. Potsdamer Internetausgabe sind die
Sammelbände der „Mariannenausgabe” der zwanziger Jahre auffindbar
(http://www.unipotsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/index.htm). Um die
Webersche Begriffspolitik am Beispiel des Demagogen und der Demagogie zu
illustrieren und zu spezifizieren, nehme ich die Gesammelten Politischen
Schriften als Textbasis.In dieser Ausgabe verwendet Weber den Ausdruck „Demagog-”
83-mal. Dabei entspricht der Gebrauch oft –
besonders in seiner Parlamentsschrift – dem alltäglichen pejorativen
Wortsinn. Charakteristisch für diesen unreflektierten Gebrauch ist jedoch das
Auftreten der Demagogie in Komposita – „Admiralsdemagogie”,
„’Vaterlands’-Demagogie”, „alldeutsche Demagogie”, „Massendemagogie”,
„Straßendemagogie”, „Boulevard-Demagogie” – um nur die auffälligsten Beispiele
zu erwähnen. Diese Ausdrücke sind politisch nach zwei Seiten gerichtet. Die
drei letzten Beispiele entsprechen dem alltäglichen Ton, der sich – was Weber
angesichts der russischen Revolution bis zu einem gewissen Grad als berechtigt
ansieht – gegen die Gefahren der Demokratisierung richtet. Aber er parodiert
diese Haltung in seiner Parlamentsschrift auch: „Die bei uns populäre
Literatenauffassung ist mit der Frage der Wirkung der ‘Demokratisierung’
schnell fertig: der Demagoge kommt oben auf, und der erfolgreiche Demagoge ist
der Mann, der in den Mitteln der Umwerbung der Massen am unbedenklichsten ist.”
(1918a, 264) Es ist aber durchaus interessant zu notieren, wie Weber den
Vorwurf der Demagogie gegen diejenigen richtet, die eine Polemik gegen die
„Massendemagogie” am eifrigsten betrieben: die Admirale, die sog.
Vaterlandspartei und die Alldeutschen, nicht zuletzt Wilhelm II selbst (ebenda,
bes 249). Demagogie können auch diejenigen betreiben, die am meisten vor
Demagogen warnen. Mehrfach benutzt Weber den Ausdruck Demagoge auch für
Bismarck, und hier ist sicherlich der pejorative Wortsinn mitgemeint. Trotzdem
geht es nach Weber bei Bismarck auch um eine bestimmte Machttechnik, die – wie
sich etwa an folgender Stelle zeigt – an
den Demos appelliert: „Demagogie, und zwar eine sehr schlechte Demagogie, wurde
in Bismarcks Händen auch die soziale Gesetzgebung des Reiches, so wertvoll man
sie rein sachlich finden mag” (ebenda, 210). Die Qualifizierung der Demagogie
als „schlecht” verweist schon darauf, dass der Begriff bei Weber durchaus
formal verwendbar ist. Ähnliches kann man vom Ausdruck „bloße Demagogie” sagen,
der auch auf einen angemessenen Gebrauch des Mittels hinweist, wenn es nicht
zur Alleinherrschaft gelangt. Bei Bismarck bezeichnet Demagogie um einen
plebiszitären Politikstil, den man auch aus der amerikanischen Präsidentschaft
kennt: „Insbesondere natürlich die durch (formell) ‘demokratische’ Nomination
und Wahl legitimierte Machtstellung des Präsidenten der Vereinigten Staaten,
dessen Überlegenheit gegenüber dem Parlament eben hierauf beruht. Die
Hoffnungen, welche eine so cäsarische Gestalt wie Bismarck an das gleiche
Wahlrecht knüpfte, und die Art seiner antiparlamentarischen Demagogie lagen,
nur in ihrer Formulierung und Phrase den nun einmal legitimistischen
Bedingungen seiner Ministerstellung angepaßt, in der gleichen Richtung ”
(ebenda, 266). In einem weiten Sinn sind Demokratie und Demagogie für Weber
miteinander verbunden: „Demokratisierung und Demagogie gehören zusammen. Aber:
ganz unabhängig – das sei wiederholt – von der Art der Staatsverfassung, sofern
nur die Massen nicht mehr rein als passives Verwaltungsobjekt behandelt werden
können, sondern in ihrer Stellungnahme aktiv irgendwie ins Gewicht fallen.”
(ebenda, 265). Aus dieser Sicht wertet Weber den demagogischen Politikstil auf,
in dem er eine in Massendemokratien in
Frage kommende Alternative zur universellen Tendenz der Bürokratisierung sieht.
Demagogie ist für den Politiker im Kampf gegen die Bürokratie notwendig: ”(D)aß
für die politische Führerschaft jedenfalls nur Persönlichkeiten geschult sind,
welche im politischen Kampf ausgelesen sind, weil alle Politik dem Wesen nach
Kampf ist. Das leistet nun einmal das vielgeschmähte ‘Demagogenhandwerk’ im
Durchschnitt besser als die Aktenstube, die freilich für sachliche Verwaltung
die unendlich überlegene Schulung bietet.” (ebenda).In Politik als Beruf, in dem sein
Hauptinteresse auf den Typus des Politikers gerichtet ist, formalisiert Weber
seinen Begriffsgebrauch. Der ‘große Demagoge’ ist ein Typus, für den
charismatische Legitimität möglich ist (Weber 1919, 37). Zu den Sondermerkmalen
des Okzidents gehört auch der Politiker, dessen Ursprung in den „freien
‘Demagogen’” der Antike liegt (ebenda, 38). Den Demagogen Perikles nimmt Weber
als Ausgangspunkt seiner Darstellung der historischen Typen des
Berufspolitikers: „Der ‘Demagoge’ ist seit dem Verfassungsstaat und vollends
seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der
unangenehme Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, daß nicht
Kleon, sondern Perikles der erste war, der diesen Namen trug.” (ebenda, 54). Im diesem neutralisierten oder gar
aufgewerteten Sinn bezeichnet der Demagoge im Allgemeinen einen rhetorischen
Politikertypus, den Weber gegen den Beamtentypus stellt. Die Demagogie ist hier
insofern wichtig, als die Rede für den Politiker in unterschiedlichen Regimes
unverzichtbar ist: „(D)ie Macht der demagogischen Rede (ist) vor allem
maßgebend” (ebenda, 65). Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Demagogie
wird letztlich durch die Rhetorik vermittelt: „Denn die heutige Politik wird
nun einmal in hervorragendem Maße in der Öffentlichkeit mit den Mitteln des
gesprochenen oder geschriebenen Wortes geführt” (ebenda, 53).Das Beispiel der
Demagogie deutet an, wie Max Weber mit den Bedeutungen von Begriffen spielt. Er
schließt sich dem alltäglichen Wortgebrauch an, wenn es seinen eigenen Zwecken
dient, tut dies aber so, dass er für die naiven und eifrigen Anhänger eines
Begriffs Gebrauchsweisen andeutet, die diesen keineswegs einen Gefallen tun.
Der Demagoge ist auch ein Begriff, mit dem Weber normative Dimensionen öffnet,
d.h. die ausschließlich pejorative Verwendung ins Neutrale oder gar ins Lobende
umkehrt. Die Neutralisierung ist vor allen ein Medium der Akademisierung der
Alltagsbegriffe, und – anstatt neue Termini technici zu konstruieren – eine
Erfindung des Potentials dazu. Zwischen dem alltäglichen und dem akademischen
Wortgebrauch gibt es bei Weber jedoch keine eindeutige Wasserscheide, sondern
eine „range of variation”, wie Quentin Skinner (1979) sagt. In der Sprache
Skinners kann man Webers Begriff des Demagogen auch als Modellbeispiel der
rhetorischen Umschreibung von Begriffen begreifen (s. Skinner 1996, 2002).
7. Die Anarchie der
Produktion
Die
entscheidende Bedeutung Nietzsches – nicht nur für Webers Religionsanalysen,
sondern auch für seine perspektivistische Wissenschaftstheorie – wird in der
neueren Literatur (etwa seit Peukert 1989) weitgehend anerkannt. Eines der
Schlagwörter Nietzsches, das aus der antiken Rhetorik stammt, ist die Formel
der Umwertung der Werte (vgl. Skinner 1996 und 1999 für die Rolle des Schemas
paradiastole in der rhetorischen Umwertung der Begriffe). Diese Strategie
gehört explizit zu Webers begriffspolitischem Instrumentarium. Gegen Ende
seiner Analyse der Lage der „bürgerlichen Demokratie in Russland” heißt es zum
Beispiel: „Was jetzt…, solange die ökonomische und geistige „Revolution”, die
vielgeschmähte ‘Anarchie’ der Produktion und der ebenso vielgeschmähte
‘Subjektivismus’ noch ungebrochen bestehen, dem durch sie, und nur durch sie,
auf sich selbst gestellten Individuum der breiten Massen nicht als
‘unveräußerliche’ Persönlichkeits- und Freiheitssphäre gewonnen wird, das wird
ihm … vielleicht niemals erobert werden…” (Weber 1906b, 101). Zu beachten ist
hier die gegen Marx und die zeitgenössischen Sozialisten gerichtete Aufwertung
der „Anarchie der Produktion”. Damit lobt Weber – was zeitgenössische
Apologeten des Kapitalismus kaum hätten leisten können – zugleich die
Konkurrenzwirtschaft. Wie Weber kurz zuvor sagt: „‘Wider dem Strom’ der
materiellen Konstellation sind wir ‘Individualisten’ und Parteigänger
‘demokratischer’ Institutionen” (ebenda 99-100).Man merkt überall die
Anführungszeichen. Es ist eben nicht der ‘übliche Sinn’ der Anarchie, des
Individualismus und der Demokratie, den Weber verteidigt. Vielmehr greift er
Schimpfworte auf, um sie in seinem eigenen Sinne aufzuwerten und zugleich eine
Distanz zu den bekennenden Anarchisten aufzuzeigen, die ja kaum Anhänger einer
„Anarchie der Produktion” waren. Noch in der Parlamentsschrift von 1918 wird
diese Aufwertung von Anarchie, Individualismus und Demokratie von Weber
explizit gegen die Kritik der „Literaten” aufrechterhalten: «Eine “organische”,
d. h. eine orientalisch-ägyptische Gesellschaftsgliederung, aber im Gegensatz
zu dieser so streng rational wie eine Maschine es ist, würde dann
heraufdämmern. Wer wollte leugnen, daß derartiges als eine Möglichkeit im
Schoße der Zukunft liegt? Es ist das schon oft gesagt worden, und die
verworrene Vorstellung dieser Möglichkeiten zieht ihre Schatten in die
Produktionen unserer Literaten. Nehmen wir nun einmal an: gerade diese
Möglichkeit wäre ein unentrinnbares Schicksal, – wer möchte dann nicht lächeln
über die Angst unserer Literaten davor, daß die politische und soziale
Entwicklung uns künftig zuviel “Individualismus” oder “Demokratie” oder
dergleichen bescheren könnte und daß die “wahre Freiheit” erst aufleuchten
werde, wenn die jetzige “Anarchie” unserer wirtschaftlichen Produktion und das
“Parteigetriebe” unserer Parlamente beseitigt sein werden zugunsten “sozialer
Ordnung” und “organischer Gliederung” – das heißt: des Pazifismus der sozialen
Ohnmacht unter den Fittichen der einzigen ganz sicher unentfliehbaren Macht:
der Bureaukratie in Staat und Wirtschaft! (1918a, 221-222)». An dieser
Stelle deutet Weber die Ähnlichkeiten zwischen dem vorkapitalistischen und dem
sozialistischen Gemeinschaftsdenken an. Seine Pointe liegt darin, dass die
Denunziation der „Anarchie der Produktion” zugleich den „Individualismus” und
die „Demokratie” bedrohen, was zwar viele, nicht aber alle ihrer Gegner auch
befürworten.Im Sozialismus-Aufsatz, als Vortrag 1918 vor Offizieren in Wien gehalten, kommt Weber
auf das Schlagwort zurück. Hier legt er den Begriff etwas detaillierter aus:
„Diese Privatwirtschaftsordnung hat die sozialistische Theorie mit dem
Schlagworte von der »Anarchie der Produktion« belegt, weil sie es darauf
ankommen läßt, ob das Eigeninteresse der einzelnen Unternehmer an dem Absatze
ihrer Produkte: das Interesse daran, Gewinn zu machen, so funktioniert, daß
dadurch eine Versorgung derjenigen, die dieser Güter bedürfen, gewährleistet
ist.” (Weber 1918b, 310). Zur Erläuterung dessen, was im Sozialismus fehlt,
heißt es bei Weber: „(D)ie sogenannte Anarchie der Produktion, d.h. die
Konkurrenz der Unternehmer untereinander” (ebenda, 312). Den Offizieren
versucht Weber also sichtbar zu machen, dass „Anarchie” nicht immer schlimm
sein muss, obwohl man vermuten kann, dass Anarchie für viele Militärs schlimmer
war als Sozialismus.Eine
andere Formel Webers, die eine im Vergleich zum bisherigen Gebrauch noch
stärkere Degradierung eines Begriffs betreibt, findet man im selben Vortrag. Er
bezeichnet die bolschewistische Praxis der Soldatenräte als „eine
Militärdiktatur, zwar nicht der Generäle, aber der Korporäle” (ebenda, 323).
Zugleich wird die Formel der Diktatur des Proletariats mit dem Begriff der
Militärdiktatur verbunden: „Es ist das einzige ganz große Experiment einer
»Diktatur des Proletariats«, das bisher gemacht wurde” (ebenda). Mit dieser
Zusammenführung zweier Begriffe der Diktatur werden beide nicht nur
gegeneinander ausgespielt, sondern auch weiter degradiert.
8. Politik der
Auflösung
Max Weber
widerstrebte schon der Gedanke eines kohärenten Denksystems: „Ein System der
Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv
gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu
handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich” (Weber 1904, 184). In
diesem Sinne greift er der späteren Begriffsgeschichte vor: „Stets wiederholen
sich die Versuche, den »eigentlichen«, »wahren« Sinn historischer Begriffe
festzustellen, und niemals gelangen sie zu Ende”. (ebenda, 206, s. Palonen
2000, 2003b) Insofern sollen die lexikalischen Quasi-Definitionen der Soziologischen Grundbegriffe auch primär
als Instrumente der Kritik im Zeichen der beispielhaften Einführung der
Begriffsbildung unter Präsentation alternativer „reinen Typen” verstanden
werden.Es ist auch
deutlich, dass Max Weber beansprucht, zentrale Teile des zeitgenössischen
Begriffsapparats aufzulösen. Viele seiner wissenschafts- und
begriffsgeschichtlichen Bemerkungen –
die folgende Charakterisierung der Nationalökonomie etwa – dienen der
Auflösung des betreffenden Begriffsapparats: „Aber die Eigenart jener
Weltanschauung mit ihrem optimistischen Glauben an die theoretische und
praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen wirkte wesentlich insofern, als
sie hinderte, daß der problematische Charakter jenes als selbstverständlich
vorausgesetzten Gesichtspunktes entdeckt wurde“ (Weber 1904, 185). Nun konnte
Weber aber nicht alles gleichzeitig über Bord werfen. Insofern benutzte er
intellektuelle Instrumente mehrerer zeitgenössischer Denkrichtungen, etwa der
historischen Schule und der ihr traditionell entgegengesetzten marginalistischen
Theorie in der Nationalökonomie oder des Neukantianismus, der Phänomenologie
und vor allem das Werk Nietzsches mit seiner Wissenschaftstheorie. Dieser Bezug
war jedoch thematisch spezifisch und diente den besonderen Zwecken Webers. Aus
dieser Sicht sind seine Zustimmungen eher verdächtig und die direkten
Konfrontationen in seinen Pamphleten durchaus deutlich, obwohl er gegenüber
seinen Freunden, wie zum Beispiel Naumann, auch dort gelegentlich
Höflichkeitsfloskeln prägt. Aber nach welcher Art von akademischen
Machtanteilen strebte Weber mit seinem eigenen Werk? Offensichtlich gab für
eine akademische Hegemonie einer neuen Sichtweise à la Weber höchstens
marginale Chancen. Ebenso klar ist, dass Weber kaum ein akademischer Mandarin
sein wollte. Dagegen zeigen mehrere seiner Polemiken, dass es ihm recht gewesen
wäre, bestimmte Ansätze aus dem akademischen Wettbewerb überhaupt
auszuschließen. Man denke etwa nur seine Auseinandersetzung mit Wilhelm
Ostwalds „energetischen Kulturtheorien”, die Weber aus politischen Gründen gern
aus der Diskussion ausschalten wollte: «Denn ein Apostel der »Ordnung« und der
Vermeidung »energievergeudenden« Echauffements für andere als technologische
Ideale, wie es Ostwald ist und konsequenterweise sein muß, verbreitet – ob er
will oder nicht (und wahrscheinlich geschähe dies sehr gegen Ostwalds Willen) –
unvermeidlich eine Gesinnung der Fügsamkeit und Anpassung gegenüber den
gegebenen sozialen Machtverhältnissen, wie sie den matter-of-fact-men aller
Epochen gleichmäßig eigentümlich war. Freiheit der Gesinnung ist nun einmal
sicherlich kein technologisch oder utilitarisch wertvolles Ideal und
»energetisch« nicht begründbar». (Weber 1909, 422-423) Hier geht es eben nicht
um Webers mangelndes Vertrauen in die akademischen Chancen Oswalds, einen
eigenen Beitrag zur akademischen Theoriepolitik zu liefern. Vielmehr sind die
philosophischen Annahmen Ostwalds nach Webers Ansicht für die politische
Freiheit überhaupt katastrophal. Deswegen möchte er ihn aus dem akademischen
Betrieb fernhalten. Die Regelung des Theoriestreits enthält auch die
Möglichkeit, diejenigen Spieler auszuschließen, die mit unfairen Mitteln
spielen, und bei Ostwald ist dies für Weber gerade der Fall. Deswegen ist die
Ablehnung auch kategorischer als in seinen sonstigen Polemiken.Die eigene
Perspektive als akademischen Machtanteil kann Weber nur als berechtigte
Teilnahme am Theorienstreit behaupten. Das Beispiel Ostwalds verweist darauf,
dass dies auch das Recht enthält, zu sagen, wer aus der Konkurrenz
ausgeschlossen werden sollte. Ein eigenes Profil zu schaffen, darf nicht zu
einer Wissenschaftsauffassung führen, die zur Beendigung jedes Theoriestreits
führt, ebenso wie es dem Parlamentarismus nicht erlaubt ist, den
Parlamentarismus durch Mehrheitsbeschlüsse abzuschaffen.
9. Der Wissenschaftler:
Beamter oder Politiker?
Nach
konventioneller Ansicht steht der Wissenschaftler für vita contemplativa. Wenn
es um die Begriffsbildung geht, ist eine rein kontemplative Haltung für den
Wissenschaftler jedoch praktisch unmöglich. Aus der Sicht Webers können
Begriffe nie aus dem Gegenstand der Untersuchung entnommen werden: „Wenn immer
wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem »Stoff selbst
entnommen« werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten,
der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er
unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit
einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es
ihm allein ankommt” (Weber 1904, 181). Wie aber soll sich der Forscher zu
diesem Zwang der Stoffauswahl und der Perspektivenbildung verhalten. Meiner
These nach hat gibt es zwei historische Idealtypen, die auch als Paradigmen der
Forschungspraktiken dienen, nämlich den Beamten und den Politiker: « Der echte
Beamte – das ist für die Beurteilung unseres früheren Regimes entscheidend –
soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben, sondern:
“verwalten”, unparteiisch vor allem, – auch für die sogenannten “politischen”
Verwaltungsbeamten gilt das, offiziell wenigstens, soweit nicht die
“Staatsräson”, d. h. die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung, in Frage
stehen. Sine ira et studio, “ohne Zorn und Eingenommenheit” soll er seines
Amtes walten. Er soll also gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer
sowohl wie seine Gefolgschaft, immer und notwendig tun muß: kämpfen. Denn
Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des
Politikers» (Weber 1919, 53).Mit einer einseitigen Steigerung kann man diese
Gegenüberstellung durchaus auf die Forschungspraktiken anwenden. So kann man
die Webersche Pointe zu der These ausweiten, dass auch unter den
Wissenschaftlern zwei entgegengesetzte Menschentypen zu finden sind, nämlich
den Beamtentypus und den Politikertypus. Für Weber sind beide Typen legitim. So
wie für ihn die kontinentalen Beamten der Dilettantenverwaltung des
amerikanischen spoils system an Effektivität überlegen ist, sind die
Normalwissenschaftler in bestimmten spezialisieren akademischen Bereichen den
politischen Dilettanten des akademischen Betriebes durchaus überlegen, da diese
das Handwerk der Wissenschaften nicht beherrschen. Dagegen reicht der
Beamtentypus dort nicht aus, wo die Normen und Kriterien der „Wissenschaft”
selbst umstritten sind, wie es für die historischen Wissenschaften typisch ist:
”(E)s gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das
sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende
Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die
Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer
idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.” (Weber 1904, 206). In den
historischen Wissenschaften benötigt man eben die Bereitschaft zum Neuen und
zur Auflösung des Alten, wie sie dem Politikertypus des Wissenschaftlers eigen
ist. Die ewige Jugendlichkeit ist etwas, was dem Beamten verdächtig erscheint,
dem Politiker durchaus verständlich und aus eigener Erfahrung, etwa im Sinne
des Wiederaufstiegs nach bitteren Niederlagen, durchaus bekannt ist (s. auch
Palonen 2005). In diesem Sinne bietet der Politiker durchaus ein Paradigma für
einen innovativen Wissenschaftler.
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